Achtsamkeit im Alltag: Wie beobachten ohne bewerten geht



Beobachten ohne bewerten ist ein wesentlicher Bestandteil der Achtsamkeitspraxis. Was damit gemeint ist und wie beobachten ohne bewerten geht, möchte dieser Blogpost klären.

Geht beobachten ohne bewerten überhaupt?

Nun, das ist eine gute Frage. Wenn ich das Bewertungsverhalten von uns Menschen betrachte, stelle ich fest, dass wir die Welt um uns herum - unsere eigenen Gedanken und Gefühle inklusive - automatisch in Kategorien wie “gut”, “schlecht”, “schön”, “nicht schön”, “so macht man`s”, “so macht man`s nicht”, “richtig” oder “falsch” einteilen. Wir bewerten Vorkommnisse, Erlebnisse, andere Menschen und uns selbst. Sitzen wir auf einer Bank im Wald und hören einen Vogel zwitschern, denken wir: “Der Vogel singt aber schön!” Haben wir mit Freunden einen Abend erlebt, beurteilen wir: “Das war ein toller Abend!” Immer wieder stellen wir aber auch fest, wie andere Menschen uns in irgendwelche Kategorien stecken. Das finden wir dann weniger lustig.

Grundsätzlich ist nicht jedes Beurteilungsverhalten schlecht. Es ist sogar überlebensnotwendig. Bewerten - egal ob positiv oder negativ - ist ein innerer Mechanismus, der sich automatisch auslöst, sobald wir etwas erleben. Mehr noch: Unser Gehirn ist darauf ausgelegt, dass es Situationen basierend auf vergangenen Erfahrungen bewerten kann, um Entscheidungen zu treffen und Handlungen einzuleiten. Wir brauchen die Bewertungsfunktion des Gehirns und können sie auch nicht ausschalten. Ein Zustand, in dem wir nicht bewerten, gibt es also nicht und ist auch nicht anzustreben.

Nein, beobachten ohne bewerten geht also nicht!

Was bedeutet beobachten ohne bewerten denn?

Die Krux mit dem Bewerten ist, wenn unser Gehirn auf Autopilot schaltet und reaktives Verhalten aufgrund von Bewertungen automatisch geschehen. Also unbewusst. Gerade wenn Angst noch im Spiel ist, kann unsere Situation schnell kompliziert und „messy“ werden.

Wenn einem Mann - ich nenne ihn Oli - ein Missgeschick passiert, hat er die Angewohnheit laut und unschön zu fluchen. Seine Partnerin zuckt jedesmal aufs Neue zusammen und beginnt einen Streit, bei dem sie ihn zurechtweist. Ist es schön, dass Oli bei jedem Missgeschick ausruft? Nein. Aber das Problem ist nicht per se sein Verhalten, sondern die automatische Bewertung der Partnerin aufgrund derer sie unbewusst handelt. Ihre Bewertung ist: „Achtung Gefahr. Mir passiert etwas!“ Ein typisches Angstmuster, das aufgrund vergangener Erfahrungen so von ihrem Gehirn abgespeichert wurde. Und wiederkehrend finden sich Oli und seine Partnerin in einem zermürbenden, kräftezehrenden Streit wieder.

Dieses Beispiel verdeutlicht, wie oft wir auf das handeln, was wir beurteilen und denken, nicht aber auf das, was im gegenwärtigen Moment wirklich stattfindet. Wir reagieren auf das, was in unserem Kopf abgeht, nicht aber auf das, was in der Realität wirklich geschieht. Dies bringt viele Probleme und Unfrieden mit sich.

Beobachten ohne bewerten meint also nicht die Bewertung auszuschalten, sondern sich nicht von ihr bestimmen zu lassen. Es bedeutet automatische Bewertungsmuster zu durchbrechen.

Gelingt das, hat man bedeutende Vorteile:

  • Mehr Gelassenheit und Ruhe: Durchbrechen wir automatische Bewertungsmuster, kehrt mehr Ruhe, Gelassenheit und Frieden ein.

  • Bessere Beziehungen: Lässt man sich vom Autopiloten nicht mehr fremdsteuern, sind bewusstere Entscheidungen und Reaktionen möglich, was wiederum zu qualitativ besseren Beziehungen führt.

  • Klarheit im Denken: Durch das Erkennen und Loslassen von Bewertungen, erkennt man klarer, was wirklich los ist oder was wirklich wichtig ist.

Wie geht nun beobachten ohne bewerten?

Die Achtsamkeitspraxis stärkt den präfrontalen Kortex. Dieser Teil des Gehirns ist für das Abwägen und Beurteilen von Erlebnissen und damit für rationales Denken und Handeln zuständig. Durch Achtsamkeit werden im präfrontalen Kortext emotionale Trigger neutralisiert, so dass reaktives Verhalten gehemmt wird.

Unterscheiden Sie Beobachtungen von Bewertungen

Als erstes ist es also wichtig, die Bewertungen überhaupt als solche zu erkennen. Nehmen Sie sich darum Zeit, Ihre Beobachtung von der Bewertung unterscheiden zu lernen, damit Sie bewusstere Entscheidungen treffen und klarere Handlungen einleiten können. Genau das will Achtsamkeit.

So könnten Sie vorgehen:

🌿 Nehmen Sie in einem gewählten Augenblick in Ihrem Alltag wahr, was Sie sehen. Und beobachten Sie anschliessend, welche Beurteilungen, Bewertungen oder inneren Kommentare Ihnen durch den Kopf gehen (Erinnerungen, Impulse, Gedanken, Emotionen). Diese können positiv oder negativ sein. Lassen Sie diese kommen und gehen. Nehmen Sie sie einfach wahr. Welches sind nun Beobachten und welches sind Ihre Bewertungen?

Sie können diese Übung überall durchführen:

  • an der roten Ampel

  • beim Warten auf den Zug

  • in einem Kaffee

  • in einer Pause

  • oder wo auch immer Sie sich gerade befinden.

Lassen Sie Bewertungen vorbeiziehen

Bei dieser Übung werden Sie feststelen, dass Bewertungen sowieso kommen. Wie Sie bereits wissen, gibt es neurophysiologisch keinen Zustand ohne bewerten. Wenn also eine Bewertung kommt, nehmen Sie sie wahr und lassen Sie sie vorbeiziehen. Kehren Sie zur simplen Beobachtung zurück.

Um Beobachtungen von Ihren Bewertungen zu unterscheiden und Bewertungen an sich vorbeiziehen zu lassen, braucht es viel Übung. Schon wenige Minuten am Tag können langristig einen grossen Unterschied machen. Erinnern Sie sich darum daran, beispielsweise mit einem Post-it oder einem Timer. Sie werden glücklich sein, nicht mehr vom emotionalen Autopiloten fremdgesteuert zu sein. Es wird Ihnen ein Gefühl von Selbskontrolle zurückgeben und damit auch von Handlungsfähigkeit.

 
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